Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD veröffentlicht

Dramatische Zahlen: So steht es um Glaube und Kirche in Deutschland

Veröffentlicht am 14.11.2023 um 14:34 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Gesunkene Kirchenbindung, kaum noch Vertrauen, hohe Austrittszahlen: Die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, an der sich erstmals auch die katholische Kirche beteiligt hat, beschreibt schonungslos die Lage der Kirchen in Deutschland. Und doch: Die Studie räumt ihnen noch Handlungsmöglichkeiten ein.

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Ende September postete der Karikaturist Thomas Plaßmann bei Facebook eine Karikatur zur Lage der katholischen Kirche. Hinter nur äußerst spärlich besetzten Kirchenbänken sieht man in der Zeichnung einen Priester und zwei Messdiener, die neben dem Altar sitzen und auf die Gläubigen in den Reihen vor ihnen blicken. Über dem Geistlichen schwebt eine Gedankenblase: "Erschütternd! Nur so wenige!" Einer der neben ihm sitzenden Ministranten beurteilt den Gottesdienstbesuch dagegen weniger pessimistisch. "Erstaunlich! Noch so viele!", steht in seiner Gedankenblase.

Plaßmann nahm damit gleichsam die Ergebnisse der am Dienstag veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorweg. In der repräsentativen Untersuchung, an der sich erstmals seit der ersten Erhebung im Jahr 1972 auch die katholische Kirche beteiligt hat und für die zum ersten Mal auch Katholiken befragt wurden, zeigt sich mit Blick auf die Lage der Kirchen in der Bundesrepublik und die Religiosität der Bevölkerung nämlich ein ähnliches Bild wie in der Zeichnung des Karikaturisten: Die Reihen in den Kirchen haben sich deutlich gelichtet und lichten sich weiter und auch die Religiosität geht zurück – ein paar Menschen aber halten den Kirchen noch die Treue und stehen Glaube und Religion nicht gleichgültig gegenüber.

"Wie hältst du's mit der Kirche?"

So weit, so erwartbar – könnte man meinen. Schließlich ist der dramatische Erosionsprozess der beiden früheren Volkskirchen durch diverse Umfragen und Studien in den vergangenen Jahren bereits umfangreich dokumentiert worden. Auch katholisch.de hat in zahlreichen Artikeln über den Vertrauensverlust insbesondere der katholischen Kirche und die sinkende kirchliche und religiöse Bindung der Bevölkerung berichtet. Zuletzt zeigte etwa Ende September eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov, dass jedes zweite katholische Kirchenmitglied in Deutschland nie einen Gottesdienst besucht.

Dennoch liefert die KMU unter dem Gretchenfragen-Titel "Wie hältst du's mit der Kirche?" auch einige neue Erkenntnisse sowie tiefere Einblicke, die klassische Ja-Nein-Umfragen so meist nicht bieten können. Zudem führt sie die weiter voranschreitende Säkularisierung in Deutschland und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust der Kirchen mit dramatischen Zahlen noch einmal neu und eindrücklich vor Augen.

„Der Glaube sagt mir nichts, ich brauche keine Religion.“

—  Zitat: 12 Prozent der Katholiken und 13 Prozent der Protestanten stimmen dieser Aussage zu

Etwa beim Thema Kirchenbindung: Hier geben in der KMU nur noch 4 Prozent der katholischen und 6 Prozent der evangelischen Befragten an, gläubige Mitglieder ihrer jeweiligen Kirche sowie eng mit dieser verbunden zu sein. Jeweils 32 Prozent betonen, sich zwar als Christen zu fühlen, der Kirche aber keine große Bedeutung beizumessen. Und 12 Prozent der Katholiken sowie 13 Prozent der Protestanten sagen gar von sich selbst: "Der Glaube sagt mir nichts, ich brauche keine Religion". Kirchenmitglieder pauschal als Gläubige zu bezeichnen, ist demnach empirisch unzutreffend.

31 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder geben zudem an, dass das Verbundenheitsgefühl zu ihrer Kirche im Vergleich zu früher nachgelassen hat, nur 9 Prozent berichten von einer Stärkung. Bei den katholischen Kirchenmitgliedern sind diese Werte noch deutlicher: Hier trat bei 62 Prozent ein Rückgang der Verbundenheit ein, lediglich 4 Prozent berichten von einer Zunahme. Als interessanter Randaspekt zeigt sich bei der Verbundenheit schließlich ein überraschendes Ost-West-Gefälle: Ostdeutsche Christen fühlen sich mit 82 Prozent (evangelisch) und 64 Prozent (katholisch) deutlich stärker mit ihrer jeweiligen Kirche verbunden als Kirchenmitglieder im Westen (64 Prozent evangelisch, 57 Prozent katholisch). Die christliche Minderheitensituation in Ostdeutschland scheint sich also positiv auf die Mitgliedschaftsidentität bei den verbliebenen Kirchenmitgliedern auszuwirken – ein durchaus bemerkenswertes Ergebnis.

Vertrauen in die beiden Kirchen nur noch gering ausgeprägt

Parallel zum Rückgang bei der Verbundenheit ist auch das Vertrauen in die beiden Kirchen nur noch gering ausgeprägt – wobei die Erosion des Vertrauens in die katholische Kirche besonders dramatisch ist. Auf einer Skala von 1 (= überhaupt kein Vertrauen) bis 7 (= sehr großes Vertrauen) kommt die katholische Kirche auf einen Wert von 2,3 und landet damit nur knapp vor dem Islam (2,1) auf dem vorletzten Platz, während die evangelische Kirche (3,3) sogar knapp vor den politischen Parteien gelistet ist (3,1). Besonders beachtenswert: Auch unter  Katholiken genießt die evangelische Kirche (3,7) mehr Vertrauen als deren eigene Kirche (3,3).

Dramatisch aus Sicht der Kirchen: Nach Ansicht des Religionssoziologen Detlef Pollack, der im Wissenschaftlichen Beirat der KMU saß, können die Kirchen selbst kaum etwas tun, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen, sondern nur punktuell dagegen wirken. Jeder Versuch, das eigene Image aufzubessern, werde in der Öffentlichkeit sofort als eine Form der Selbstrechtfertigung wahrgenommen. "Da scheinen den Kirchen die Hände gebunden zu sein", sagte Pollack Ende Oktober. Das heiße allerdings nicht, dass die Kirchen völlig ohnmächtig seien: "Sie können Seelsorge betreiben, sie können sozial-diakonische Aufgaben erfüllen, gute Jugendarbeit und Religionsunterricht anbieten." Damit erhöhten sich die Chancen, dass die Menschen spürten, dass sie kirchlichen Mitarbeitern vertrauen könnten. Trotzdem seien die Einflussmöglichkeiten der Kirchen begrenzt, weil viele Menschen die kirchlichen Angebote gar nicht mehr kennen würden.

Eine Frau verlässt die Kreuzkirche in Bonn.
Bild: ©KNA

Parallel zum gesunkenen Vertrauen in die Kirchen ist die Neigung zum Austritt aus den Kirchen laut der KMU enorm gestiegen.

Parallel zum gesunkenen Vertrauen in die Kirchen ist die Neigung zum Austritt aus den Kirchen laut der KMU enorm gestiegen. Gaben bei der Erhebung im Jahr 2012 noch 74 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an, dass ein Kirchenaustritt für sie nicht in Frage komme, sind es heute nur noch 35 Prozent und bei den Katholiken sogar nur 27 Prozent – Zahlen, die sich mit den dramatisch angestiegenen realen Austrittszahlen der vergangenen Jahre decken. Allein im vergangenen Jahr traten aus der katholischen Kirche 522.821 Menschen aus – ein neuer, aber wohl auch nur vorläufiger Austrittsrekord.

Bei den Motiven für einen Kirchenaustritt gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedern beider Kirchen. Während Protestanten laut der Befragung vor allem austreten, weil ihnen Religion und Kirche in einem längeren Prozess gleichgültig geworden sind, spielen bei Katholiken Emotionen wie Wut und Zorn über die eigene Kirche eine große Rolle. Ärger über kirchliche Mitarbeiter, über die Ungleichbehandlung von Frauen, undemokratische Strukturen, Unglaubwürdigkeit und kirchliche Skandale – all dies wird von Katholiken viel häufiger als potenzieller oder tatsächlicher Austrittsgrund angegeben als von Protestanten.

Was müssten die Kirchen tun, um Menschen vom Austritt abzuhalten?

Doch was müssten die Kirchen tun, um Menschen vom Kirchenaustritt abzuhalten? In der KMU stechen vor allem zwei Antworten mit hohen Zustimmungswerten hervor: Demnach müsste die Kirchen "deutlicher bekennen, wie viel Schuld sie auf sich geladen hat" (77 Prozent), 66 Prozent würden zudem nicht austreten, "wenn sich die Kirche radikal reformiert". Den Kirchen werden also sehr wohl noch Handlungsmöglichkeiten eingeräumt, um eine große Zahl potenzieller Kirchenaustritte zu verhindern. Allerdings: Bleiben grundlegende Veränderungen aus, dürften viele Austritte nicht mehr zu verhindern sein – das zeigen die KMU-Ergebnisse von 2012. Diejenigen Protestanten, die damals erklärt hatten, "ganz bestimmt so bald wie möglich auszutreten", waren drei Jahre später tatsächlich vollständig ausgetreten. Und diejenigen, die erklärt hatten, dass sie "eigentlich" zum Austritt bereit seien und dies "nur noch eine Frage der Zeit" sei, waren acht Jahre später ebenfalls vollständig ausgetreten. Im nun schon jahrelang andauernden Ringen um Reformen in der katholischen Kirche – neuerdings im Synodalen Ausschuss – dürften diese Erkenntnisse Sprengkraft entfalten.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hatte Kirchenaustritte zuletzt als Ausdruck einer individuellen Entscheidung bezeichnet. Bei vielen Menschen sei die Bindung an die Kirche nicht mehr automatisch von der Wiege bis zur Bahre gesetzt. Religion und Konfession seien in der Vielfalt von Sinnangeboten zu sehen, zu denen man sich in verschiedenen Lebensphasen verhalte. "Und gerade die Ausgangslage von Freiheit und bewusster individueller Entscheidung, die in unserem Land möglich ist, ist wichtig und gut", so Bätzing. Sie erfordere, dass die Kirche neue Wege suche, um Menschen noch mehr in ihrer Lebenssituation und mit ihren Fragen hilfreich zu begleiten und Gemeinschaft in einem guten Geist zu fördern.

„Die Kirchen stehen vor multiplen Krisen und sehen sich großen Reformerwartungen ausgesetzt.“

—  Zitat: EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und DBK-Vorsitzender Georg Bätzing

Das forderte mit Blick auf Ausgetretene zuletzt auch der Geschäftsführer des Bonifatiuswerkes, Monsignore Georg Austen. In einem katholisch.de-Interview sagte er Anfang November: "Ich halte es in der Tat für fatal, dass wir als Kirche zwar jedes Jahr die Zahl der Kirchenaustritte veröffentlichen und bedauern – uns danach aber kaum fragen, ob und wie wir diese Menschen mit dem notwendigen Respekt für ihre getroffene Entscheidung sensibel ansprechen können." Es brauche dringend überzeugende pastorale Angebote für Menschen, die die Kirche verlassen hätten. "Wie kann man sie in ihrer Lebensbiografie begleiten? Wie können wir sie – zum Beispiel bei Taufen, Beerdigungen oder kulturellen Veranstaltungen – mit der Botschaft des Evangeliums in Berührung bringen und, wenn gewünscht, mit ihnen in einen ehrlichen Dialog treten?" Das Bonifatiuswerk wolle sich diesen Fragen im kommenden Jahr gemeinsam mit Verantwortlichen aus den Diözesen intensiv widmen.

Immerhin: Als kleinen Lichtblick für die Kirchen verbucht die KMU die Reformerwartungen an die Kirchen; zeige dies doch, dass den Kirchen keine Gleichgültigkeit entgegengebracht werde. Zumal die Zahlen in diesem Zusammenhang mehr als eindeutig sind: 96 Prozent der befragten Katholiken und 80 Prozent der befragten Protestanten finden, dass ihre Kirche sich grundlegend verändern muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Dass die Veränderungen in den vergangenen Jahren schon in die richtige Richtung gegangen sind, meinen 78 Prozent der evangelischen Christen, aber nur 49 Prozent der katholischen Befragten.

Deutliche Mehrheit der Katholiken für tiefgreifende Reformen

Eine überdeutliche Mehrheit der befragten Katholiken spricht sich zudem für tiefgreifende Reformen in ihrer Kirche aus: Ob die Abschaffung des Zölibats (95 Prozent), die demokratische Wahl kirchlicher Führungspersonen (87), die Segnung homosexueller Partnerschaften (86), oder die Forderung nach mehr Zusammenarbeit zwischen katholischer und evangelischer Kirche (93) – die Befragten formulieren klare Wünsche für Veränderungen. Auch das dürfte Einfluss haben auf den Synodalen Ausschuss, der nach dem Willen der Reformer in ein paar Jahren in einen dauerhaften Synodalen Rat übergehen soll.

Insgesamt ist die KMU eine schonungslose Bestandsaufnahme zum Zustand der beiden nicht mehr ganz so großen Kirchen in Deutschland. Neben schon bekannten Zahlen und Entwicklungen weist die Studie mit einigen besonders dramatischen Daten auf Tendenzen hin, auf die die Kirchen dringend reagieren müssen, falls sie nicht in der völligen Bedeutungslosigkeit versinken wollen. So schwer das in einer fast vollständig säkularisierten Gesellschaft auch sein mag – Möglichkeiten, so die KMU, haben die Kirchen noch. In ihrem Geleitwort beschreiben die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und Bischof Bätzing die Lage so: "Die Kirchen stehen vor multiplen Krisen und sehen sich großen Reformerwartungen ausgesetzt." Die zentralen Herausforderungen seien, nicht den Anschluss an den kulturellen Wandel zu verlieren, für die jüngsten Generationen attraktiv zu bleiben und nicht nur gesellschaftlich gut etablierte Menschen anzusprechen.

Von Steffen Zimmermann